Category: | Article - Magazine | Publish date: | 5/1/2003 |
Source: | Testcard #12: Linke Mythen, p.102-109 | With: | - |
Synopsis: | This article was originally published in German within TESTCARD #12 (an ambitioned journal for "pop-theory"). It's based on a discussion the author Oliver Uschmann had with Greg Graffin in January 2002, where he confronted Greg's optimistic "humanistic naturalism" and scientific positivism with the dark and sceptic "critical theory" and technological criticism of philosophers like Günther Anders, Theodor W., Adorno or David Noble. |
Bad Religion und die Dialektik der Aufklärung
Autor: Oliver Uschmann
Eines der stabilsten Fundamente der Moderne ist der Mythos von der befreienden, erhellenden und durchweg emanzipatorischen Kraft der Wissenschaft. Adorno dagegen setzte sie in eine Ahnenfolge mit Magie, Mythos und Religion als weiterem bloßem Glaubenssystem und Höhepunkt des Äquivalenzwanges, „sich die Erde untertan“ zu machen und sich um so mehr von der gesuchten Erlösung und Wahrheit zu entfernen. Auch Nietzsche sah die wissenschaftliche Aufklärung zeitweise als bloßen weiteren „notwendigen Irrtum“ neben anderen Arten des schönen Scheins, der uns den Blick in den schrecklichen Urgrund erspare, anstatt ihn aufzudecken.
Wissenschaft - das war für viele Philosophen eine Form menschlicher Selbsterlösung, eine mythologisch und religiös aufgeladene Suche nach der Matrix unseres Seins, die eine teuflische Dialektik aufmachte, deren zerstörerische Wirkung sich nicht nur in den Bomben von Hiroshima und Nagasaki zeigte.
Diese von Theodor W. Adorno, Günther Anders oder Friedrich Wagner eindrucksvoll erläuterte Suche nach dem Paradies, leidenschaftlich als „Wissenschaftsreligion“ kritisiert, kann seit ihren Anfängen als transzendentaler Durchbruchsversuch in drei Richtungen beschrieben werden:
1] Das Durchdringen des Mikrokosmos, welches zur Entdeckung der Atomkernspaltung führte und gegenwärtig etwa durch die Nanotechnologie fortgeführt wird. Diese Richtung transzendentalen Durchbruchs führte zur Überwaffe, der Atombombe.
2] Das Durchdringen des Makrokosmos in Form der Raumfahrt. Diese Richtung transzendentalen Durchbruchs führt zur Überwelt, der imaginierten Besiedlung und Eroberung des Weltraums.
3] Das Durchdringen des inneren Kosmos unseres Körpers in Form der Gen- und Biotechnologie. Diese Richtung transzendentalen Durchbruchs führt zum Übermenschen, der mehr oder minder
deutlich vorgebrachten Zielsetzung einer gezielten Evolution durch Menschenhand.
„Die scheinbar rationalen Wissenschaftler und Techniker werden angetrieben durch religiöse Sehnsüchte nach übernatürlicher Erlösung“, schreibt David F. Noble im Inlet seines Buches Eiskalte Träume. Die Erlösungsphantasien der Technologen (Im Original The Religion of Technology), dessen Cover ein aus Reagenzgläsern zusammengebundenes Kreuz ziert. Das Buch liegt auf einem Tisch in der Bar des Düsseldorfer Renaissance-Hotels, wo ich auf einen Mann warte, der ebenso ein Kreuz als Ikon seiner Band etabliert hat, ein durchgestrichenes, versteht sich. Greg Graffin von BAD RELIGION, studierter Naturwissenschaftler, Texter und Sänger, der sich Aufklärung und Emanzipation von jeglichen Glaubenssystemen zum Ziel gesetzt hat und der doch selber unumstößlich an eines zu glauben scheint - die Wissenschaft selbst. Da sitze ich nun vor meinem
von Epitaph bezahlten Kaffee, geschult und bewaffnet mit Wissenschaftskritik und der Absicht, kein Wort über Musik zu reden, sondern Graffin damit zu konfrontieren, dass die Aufklärung vielleicht doch ein klein wenig dialektisch verlief.
„I'm materialist / A full-blown realist (physical theorist) / I ain't no deist / It's there for all to see so don't speak of hidden mysteries with me“1 zementiert Graffin auf The Process Of Belief noch einmal deutlich den Kernpunkt von allem, worum es ihm je ging. Sieht er sich als Anti-Metaphysiker? Ist Positivismus kein Glaubenssystem?
„Ich denke, es ist eine falsche Annahme zu glauben, dass ein Materialist kein metaphysisches Element in sich trägt. Es steckt ein metaphysisches Element in der Wissenschaft und es nennt sich Naturalismus. Und Naturalismus ist selbst ein Glaubenssystem, aber eben eines, das auf verifizierbaren Beobachtungen beruht. Der Glaubensaspekt tritt dort insofern ein, dass die Naturalisten glauben, „Wahrheit“ finden zu können. Objektive Wahrheit. Es ist der Glaube, dass unser System enthüllen wird, wie das Universum und die Erde wirklich beschaffen sind. Also... Wahrheit ist erreichbar durch Observation und Verifikation. Und die Wahrheit der Geschichte ist abgeleitet aus miteinander konkurrierenden Möglichkeiten, die wir erforschen.“
Dann gibt es in der Wissenschaft kein Streben nach Gott, keinen Ehrgeiz, Schöpfer zu spielen oder Unsterblichkeit zu erlangen? Keine Dominanz des Menschen über die Natur, die er nicht nur erforscht, sondern auch verwandelt, verändert, unterdrückt?
„I don’t buy that at all. Ich denke, dass Naturalismus das Konzept „Gott“ vollkommen ausschließt. Naturalismus sieht die Menschheit eben gerade als einen Teil der Natur. Und weil wir Teil der Natur sind, akzeptieren wir auch den Tod. Wir akzeptieren die Kontingenz und Zufälligkeit des Geburtsprozesses. Du redest hier viel über Philosophie. Und sehr viel von der Philosophie ist ein Auswuchs der Theologie. Philosophie wurde von den Theologen und den Kirchenvätern begonnen, viele der philosophischen Überlegungen wurden vollkommen von der biologischen Realität losgelöst. Die meisten philosophischen Fragen bekommst du aber nicht durch Gehirnübungen beantwortet, sondern dadurch, das wirkliche Bild von der menschlichen Natur zu erforschen. Immanuel Kant war diesbezüglich schrecklich. Er war einer der verwirrendsten Philosophen aller Zeiten, weil er absolut kein Verständnis von der biologischen Natur hatte. Und heute – speziell im 20. Jahrhundert – gibt es keine Entschuldigung für einen Philosophen, der nicht wenigstens ein vages Verständnis von der menschlichen Biologie hat.“
Graffin spricht freundlich und sicher, sein Blick verrät keine Zweifel. Neben seiner Kaffeetasse liegt ein Buch, mit dem er sich an diesen Promotagen die Zeit vertreibt, ein Werk von Ray Kurzweil, dem amerikanischen Guru der Künstliche Intelligenz-Forschung. Im Verlauf des Gesprächs schälen sich genau jene Argumente heraus, die sich bei vielen bedeutenden Wissenschafts-Apologeten finden lassen, deren blinder Fleck die Dialektik war und ist. Der britische Lordkanzler Francis Bacon hatte die „Wissenschaftsreligion“ zu einer Zeit gegründet, in der die erste Verbreitung der übersetzten Bibel zu einer Exegese führte, die Adam vor dem Sündenfall als Herrscher über die Natur und vollendeten Übermenschen sah, dessen Wissen und Macht nun in der als Geschichte des Sündenfalls erzählten Historie von einer „neue[n] Wissenschaftstheorie und einer neue[n] Metaphysik“ wiedererlangt werden müsse, um daran „die Erschaffung eines neuen Himmels und einer neuen Erde“2 anzuschließen. Seit dieser Zeit tritt ein zentrales Motiv in den Argumentationen der Wissenschaftler auf - die scheinbare Wahl zwischen Fluch und Segen. So verkündeten sogar die Gegner einer durch Adenauer angekündigten militärischen Nutzung der neuen, noch mit großen Hoffnungen bestückten Atomkraft Ende der Fünfziger, dass sie durchaus bereit wären, den Segen dieser Entdeckung zu teilen:
„...Treten wir nun auf die Lichtseite, so sind wir geblendet von der Fülle des Lichts und unsere Augen müssen sich erst langsam daran gewöhnen. Denn in Wirklichkeit ist die Atomphysik eine Welt voll ungeahnter Wunder, die bei richtiger Nutzung unermeßlichen Segen stiften kann. Einmal gebändigt schenkt die unerschöpfliche Energie der Atomkerne dem Menschen eine grenzenlose Macht.“3
Der real erfahrene Fluch wird durch den unermesslichen Segen des Erhofften ausgeblendet, Wissenschaft etabliert in ihrem eigenen „Naturgesetz“ des ständigen „Vorwärtsschreitens“ die dauerhafte Hoffnung auf das noch Lös- und Schaffbare als unumstößliche Rechtfertigung ihrer negativen Kehrseite. Ein Mechanismus, der sich zu allen Zeiten und bei allen Hochrisikotechnologien wiederholt und zudem verdeutlicht, was Friedrich Wagner mit der Ersetzung der „primären“ durch die „sekundäre Wirklichkeit“4 oder Günther Anders mit dem „Mensch ohne Welt“ ausdrückt: im Glauben, Wahrheit und objektives Wissen zu finden, ersetzt der Mensch die von ihm noch nachvollziehbare Welt durch eine „sekundäre Wirklichkeit“ der Gesetze, Formeln und Wirkungskräfte, die zwar „verifizierbar“ sind und „stimmen“ mögen, ihn aber in seinen Fähigkeiten imgrunde übersteigen. Wir Menschen seien deshalb laut Günther Anders nicht nur die „ersten Titanen“5, sondern durch ein- und dieselbe(n) Erfindung(en) zugleich auch „die ersten Zwerge oder Pygmäen“6, da wir durch unser Handeln eine Zukunft konstituiert haben, welche „apokalypseblind“7 zugleich die ständige Möglichkeit der Zukunftslosigkeit in der Auslöschung mit einschließt: „Was uns heute - im Unterschied zum Faust - aufregen müßte“, so Günther Anders, „ist jedenfalls nicht, daß wir nicht allmächtig sind oder allwissend; sondern umgekehrt, daß wir im Vergleich mit dem, was wir wissen und herstellen können, zu wenig vorstellen und zu wenig fühlen können. Daß wir fühlend kleiner sind als wir selbst.“8 Als Grund für eine solche Entwicklung gibt Adorno „die radikal gewordene, mythische Angst“ an, die der Aufklärung innewohne: „Die reine Immanenz des Positivismus, ihr letztes Produkt, ist nichts anderes als ein gleichsam universales Tabu. Es darf überhaupt nichts mehr draußen sein, weil die bloße Vorstellung des Draußen die eigentliche Quelle der Angst ist.“9
Auch Graffin argumentiert wie jene angeblich „angsterfüllten“ Wissenschaftler, propagiert jede Art der Forschung und denkt, dass Technologie nicht per se schlecht sei und die ethische Frage nur darin bestünde, wie wir sie benutzen.
So weit so gut.
Wir könnten jetzt noch weitere Seiten über Wissenschaftskritik folgen und darüber, dass Graffin ein unbelehrbarer Positivist ohne Gespür für die Dialektik der Aufklärung ist, der damit indirekt alles bis hin zu Atombombe, genetischem Pass, Überwachungsstaat und Biowaffen affirmiert. Wagen wir statt dessen ein Experiment: drehen wir die Perspektive um.
„Humane Wissenschaft“
Nehmen wir einmal an, diese mythische Angst, die Adorno beschreibt, trifft nur uns - die Unwissenden, vom wissenschaftlichen Diskurs Ausgeschlossenen, die Philosophen, Geisteswissenschaftler. Und nehmen wir ferner an, die kritische Theorie der Wissenschaftsreligion sei wiederum selbst ein Glaubenssystem mit einem blinden Fleck, ein selbstreferentielles Gebilde, das die „Beweise“ für seine Thesen ebensogut findet wie jedes andere auch, solange es vom Standpunkt seiner Beobachterposition aus die Welt ausschließlich auf sich bezieht. Stellen wir also das Bild auf den Kopf. Wechseln wir die Perspektive.
„The human psyche has two great sicknesses: the urge to carry vendetta across generations, and the tendency to fasten group labels on people rather than see them as individuals.“10
So schreibt Richard Dawkins, Autor von Das egoistische Gen, auf der liebevoll aufgemachten inoffiziellen BAD RELIGION-Website http://thebrpage.tierranet.com. Er schreibt dies bezüglich der Anschläge des 11. September, die ihm Anlass dafür werden, „this absurd taboo“ jedweder Rücksicht auf alle Religionen endlich zu brechen. Religion sei die Wurzel allen Übels dieser Welt, sie sei schließlich
„the motivation for wars, murders and terrorist attacks, but that religion is the principal label, and the most dangerous one, by which a ‚they‘ as opposed to a ‚we‘ can be identified at all.“
Die Wissenschaft hingegen „rests on the premise that any idea is there to be attacked“ und lebt somit gerade davon, jede vermeintlich unumstößliche Wahrheit sofort wieder zu falsifizieren. Die Wissenschaft interessiere es nicht, ob ein Russe oder ein Araber, ein Schwarzer oder ein Weißer, ein Mann oder eine Frau die ein oder andere These widerlegt. - Wenn es schlüssig ist und etwas beweist, ist es gültig und jeder nimmt es an, respektiert es, arbeitet damit und jagt nicht das Labor des Gegners in die Luft, weil er einen heiligen Glauben verletzt habe. Auch Graffin wird an diesem Mittag im Hotel nicht müde, diese verbindende Kraft der Wissenschaft
zu betonen und erinnert dabei an Atomwirtschaft-Redakteur Wolfgang D. Müller, der 1955 euphorisch von der Genfer Konferenz berichtete, wie dort Russen und Amerikaner gemeinsam Fragen erörterten und eine Kooperation zustande bekamen, die das Fußvolk und die Politiker nie zustande brächten.11 Die Wissenschaft erscheint in diesem Blick als eine autonome Sphäre einer positiv bewerteten Elite, die auf der Suche nach Wahrheit sämtliche Eifersüchteleien, Glaubenskriege und politischen Feindschaften der „Welt da draußen“ nicht kennt - angesichts der finanziellen und politischen Verstrickung der Wissenschaft mit Militär, Politik und freiem Markt eine
nahezu naive, aber von vielen Positivisten immer wieder vorgebrachte Argumentation. Doch wollen wir nicht unfair werden. Graffin ist kein Wolfgang D. Müller, kein Jerry Oppenheimer und kein Craig Venter. In The Biggest Killer In American History heißt es „I think of Edward Teller and his moribund reprise / then I look to Nevada and I can't believe my eyes / it's time for him to die!“12 und auf oben genannter Homepage befindet sich ein Beitrag zu den Verbrechen dieses Erfinders der Wasserstoffbombe. „Inexcusable“ sind für Graffin die „men before our time“: „I'd like to kick their ass for what they left behind / cancer-causing chemicals / ozone-depleting aerosols /
we're all going to fry / so put your head between your legs / and kiss your ass goodbye“13 heißt es in Unacceptable und wäre hier mehr Platz, könnten noch dutzende weitere Zitate aus Graffin’schen Oeuvre gefunden werden, die so gar nicht nach blinder Wissenschaftsapologie klingen. Denn Graffin vertritt in der Tradition von Harvard-Biologen Edward O. Wilson eine Art „Humanismus aus einer rein naturalistischen Perspektive“. Soll heißen: die Auswertung und Erforschung von Fakten und systemischen Zusammenhängen in Bezug auf Klimawandel, Ökosysteme, Bevölkerungsentwicklung und Umweltverschmutzung gerade zugunsten einer positiven,
bewahrenden, konservierenden Veränderung:
„Stell Dir vor, wir hätten niemals irgendwelche Informationen über das Aussterben von Spezies im Regenwald gehabt. Ich persönlich hätte niemals eine Ethik des Bewahrens und Schützens entwickelt, wenn nicht einst Wissenschaftler den Amazonas erforscht und herausgefunden hätten, dass diese und jene Spezies sehr selten geworden ist. Wären diese Daten niemals erforscht worden, hätte ich niemals die Ethik entwickelt, den Regenwald bewahren zu wollen. In diesem Sinne lehne ich die Idee klar ab, dass man keine moralischen Prinzipien von wissenschaftlichen Daten ableiten könne.“
Gerade in diesem Sinne propagieren Wilson wie Graffin auch eine „Einheit des Wissens“- „Consilience“, so auch der Titel eines Standardwerkes von Wilson, welches auf Empfehlung von Graffin zu lesen mir tatsächlich einige horizonterweiternde Sichtweisen eingebracht hat.14 Der radikalen Linken wird es nicht gefallen, dass sich dieser ökologische Konservatismus im harmlosesten Falle als Reformismus zeigt, der auf Abkommen wie Kyoto setzt15, die neoliberalen Aspekte im Freihandel mit Emissionsrechten realpolitisch hinnimmt und im schlimmsten Falle in das mündet, was die europäische Linke wohl „Ökofaschismus“ nennen würde, wenn etwa in Text
und Video zu BAD RELIGIONS 10 in 2010 16 die Gefahr einer „Menschenflut“ durch Überbevölkerung in der Gleichsetzung von Menschen mit Fliegen und Asseln in einem Glas beschworen und die „human species“ somit vollkommen biologisiert wird. Überhaupt hält Graffin nichts von linker Politik und Ideologie, sieht in den linken Zirkeln des Punk einfach nur ein weiteres Segment jener „Religiosität“, die Menschen in Them and Us einteilt, wie sein vielleicht markantester und ehrlichster Song es beschrieben hat:
„Nein, ich begab mich damals wegen der Gemeinschaft in die Punkszene, nicht wegen der Ausgrenzung. Und das ist es, worauf es hinausläuft. Ich denke, dass die Leute, die das System radikal verändern wollen, ausgrenzende Personen sind. Sie wollen ihre eigene kleine Welt kreieren.“
Biologisch überlegene Musik
Graffin hat der Linken spätestens auf The Gray Race mehrere deutliche Absagen erteilt, u.a. in besagtem Them and Us, wo die politisch motivierten Gruppendynamiken mit den Zeilen geputzt werden:
„them and us / bending the significance to match a whimsied fable / them and us tumult for the ignorant and purpose for the violence / a confused loose alliance forming them and us / I heard him say / we can take them all / (but he didn't know who they were / and he didn't know who we were / and there wasn't any reason or motive, or value, to his story / just allegory, imitation glory / and a desperate feeble search for a friend).“17
BAD RELIGION, an deren textliche Äußerungen ganze Wagenladungen moderner Diskurse und Debatten angeschlossen werden könnten, würden sie nicht von der linksintellektuellen Poptheorie als banales Massenphänomen geschnitten und vom populären Musikjournalismus recht untheoretisch als mehr oder minder gute Melodycore-Legende behandelt18, hatten nie eine andere Mission als den - aus europäischer Sicht überflüssigen - Kampf gegen den (Aber)Glauben in einer möglichst griffigen und eingängigen Ästhetik. „Ich bin Populist, ich war immer einer und werde immer einer sein“ sagte Graffin einst im Visions-Interview zur Rechtfertigung seines Stils.19 Und auch wenn wir als Europäer einfach immer wieder den Blick für die amerikanischen Verhältnisse verlieren: Es darf nicht übersehen werden, dass die Fernsehprediger dort nach dem 11. September ganz wie die Priester 1755 nach dem Erdbeben von Lissabon verkünden konnten, dass diese Katastrophe Gottes Rache für die amerikanischen Sünden war. Für welche? Für Sklaverei, Ausbeutung, Umweltzerstörung, Vietnam, Hiroshima? Nein, natürlich nicht. Vielmehr für Schwule und Lesben, Drogen und Rockmusik, Sex vor der Ehe und das allgemeine Lotterleben. Das ist amerikanische Realität und das ist und war der Grund für BAD RELIGIONs Contra-Populismus, auch wenn mein verschmitzter Gesprächspartner heute im Rahmen eines Rock-Interviews ungewöhnlich ehrlich ist und zugibt, dass BAD RELIGION ihren Teufel tun werden, das einmal gefundene und eingespielte Erfolgsrezept zu verlassen, da es sich um ihren Brotberuf handelt. Als ich Graffin allerdings auf seinen Wunsch hin die ihm unbekannte adornistische Argumentation skizziere, warum nur eine radikale Anti-Ästhetik die von der Kulturindustrie betäubten Leute aufwecken könne, führt er selbst den Erfolg der konventionellen Formen auf biologische Prinzipien zurück:
„Wovon sollen die Leute aufgeweckt werden? Von ihrer eigenen biologischen Natur? Weißt du, ich glaube, der Grund dafür, dass die Dinge sich so entwickelt haben, wie du beschrieben hast, liegt darin, dass da irgendwas in unserem Lebensraum ist, dass in den Menschen eben diese Sehnsucht erzeugt hat, einen Refrain und eine Strophe zu hören. Diese Formen, die sich entwickelt haben, konnten entstehen, weil sie anpassungsfähig
waren. Sie bedienten eine bestimmte Funktion in unserer biologischen Natur. Warum sollte man also Menschen aus ihrer eigenen biologischen Natur aufwecken, wenn diese Natur es ist, die sie zufrieden macht?“
Ja, warum eigentlich wecken? Um gelehrte, asketische Hungerkünstler mit „richtigem Bewusstsein“ zu schaffen, die Godard und Stockhausen dem Herrn der Ringe und R.E.M. vorziehen und die in einer Art religiös-fundamentalistischer Selbstbezüglichkeit jeden, der auch nur die Möglichkeit von „Heiterkeit, Leichtigkeit, Spiel und Zuversicht“ erwägt, als „einfältiges Opfer der Kulturindustrie“ entlarven, wie es der Dozent für neue Musik und Frankfurter Ex-Jünger Tobias Plebuch in seinem treffenden Artikel Musikhören nach Adorno. Ein Genesungsbericht auf den Punkt gebracht hat?20 Dann lieber: Umwelterziehung21. Erziehung zur Mündigkeit. Unser ganzes Potential ausschöpfen und - so Graffin - „zeigen, wozu menschliche Tiere wirklich fähig sind, was sie tatsächlich ändern können und was nun mal im Anpassungsprozess der Evolution festgeschrieben wurde.“ Immer wieder dieser Begriff. Human Species. Menschliche Tiere. Und immer wieder eine Zuversicht in die emanzipatorische Kraft wissenschaftlich-rationalen Denkens, in dessen Prinzipien von Observation und Verifikation alle gleich seien, die an den Optimismus eines Aufklärers wie Condorcet erinnert, jenem von Edward Wilson zitierten „Prophet der Fortschrittsgesetze“22, der 1793 auf der Flucht vor den Jakobinern eine Schlüsselschrift der Aufklärung namens Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes verfasste. 209 Jahre später ist zwar viel passiert, aber mein Gegenüber glaubt immer noch an die Fackel der Aufklärung gegen das Dunkel des Mythos, an seine Bad Religion, die wie jedes Glaubenssystem selber eine ist.
Dennoch: sollen wir blind an die Aufklärung glauben, wie es auch der größte Teil der Linken in einem bloßen Reflex vor einem möglichen Abdriften ins Irrationale, Esoterische und somit Antiemanzipatorische immer schon tat? Oder sollen wir uns blind in das Glaubenssystem der Wissenschaftskritik und der Frankfurter Schule werfen, deren Subsumierung aller Phänomene der Menschheitsgeschichte unter das eine und allgültige Erklärungsprinzip des Identitätszwangs und des Äquivalenzprinzips imgrunde genau das exzerziert, was es bekämpft und jede Kritik als „Beweis“ falschen Bewusstseins abtun kann?
Befragen wir doch nach unseren Besuchen auf beiden Seiten des Diskurses noch einmal die beiden Parteien.
Herr Adorno?
„Die fast unlösbare Aufgabe besteht darin, weder von der Macht der anderen noch von der eigenen Ohnmacht sich dumm machen zu lassen.23 Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“24
Herr Graffin?
„a righteous student came and asked me to reflect / he judged my lifestyle was politically incorrect / I don't believe in self important folks who preach / no Bad Religion song can make your life complete / prepare for rejection / you'll get no direction from me.“25
Es steht zu befürchten, dass wir uns im Dickicht der Glaubenssysteme unsere eigene Meinung bilden müssen. Davon, dass beide Seiten, die gleichermaßen an den emanzipatorischen Effekt ihrer Theorien glauben, eine relativistische Unsicherheit ablehnen würden, können wir überzeugt sein. Deswegen aber die eigene, aufwändige und fruchtbare Beschäftigung mit diesem Thema nur aus der Sicht einer der beiden Katechismen zu betreiben, wäre die falscheste aller Lösungen.
Zum Weiterlesen
Adorno, Theodor W. / Horkheimer, Max: Dialektik der Aufklärung. Frankfurt a.M. 12. Aufl. 2000.
Noble, David F.: Eiskalte Träume. Die Erlösungsphantasien der Technologen. Freiburg 1998.
Plumpe, Gerhard: Die Wiederkehr der Philosophie: Adorno. In: Plumpe, Gerhard: Ästhetische
Kommunikation der Moderne Bd.2. Von Nietzsche bis zur Gegenwart. Opladen 1993. S. 203-247.
Uschmann, Oliver: Von Übermenschen und Hungerkünstlern. In: Weimarer Beiträge 1/2003.
Das komplette Interview sowie eine bislang unveröffentlichte Arbeit mit dem Titel Paradies oder Apokalypse. Eine Skizze
der Imaginationen und Paradigmen der „Wissenschaftsreligion“ mit besonderer Betonung der Atomdebatte in den
fünfziger Jahren kann beim Autor per Mail oder Post angefordert werden.
1 Materialist auf Bad Religion, The Process Of Belief.
2 Popkin, Richard (Hrsg): Millenarianism and Messianism in English Literature and Thought 1650-1800. Leiden 1988. S.6ff.
3 Informationen hrsg. v. Zentr. Ausschuß der Landbevölkerung gegen die atomare Aufrüstung der Bundesrepublik Nr. 18 / 1959 (IfZ: Dn 410)
4 vgl. Wagner, Friedrich: Die Wissenschaft und die gefährdete Welt. 2., erg. Aufl. München 1964.
5 Anders, Günther: Die Antiquiertheit des Menschen. Gütersloh 1997. S. 235.
6 ebd.
7 vgl. ebd. S. 227ff.
8 ebd. S. 261.
9 Adorno, Theodor W. / Horkheimer, Max: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Hrsg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt a.M. 1981. [Gesammelte Schriften Bd.3.]. S. 32.
10 Dawkins, Richard: Time to stand up. http://thebrpage.tierranet.com
11 Müller, Wolfgang D.: Atompremiere. In: Die Gegenwart Jg. 1955. S. 557-559.
12 The Biggest Killer In American History auf Bad Religion, No Substance
13 Unacceptable auf Bad Religion, Against The Grain
14 Wilson, Edward O.: Die Einheit des Wissens. München 2000.
15 der einzige konkret appellative Song auf The Process Of Belief lautet demnach auch Kyoto Now!
16 10 in 2010 auf Bad Religion, The Gray Race
17 Them And Us auf Bad Religion, The Gray Race
18 Auf Fan-Seite führten die zahlreichen textlichen Verrätselungen und naturwissenschaftlichen
Begrifflichkeiten/Anspielungen immerhin zur Gründung des Bad Religion-Lexikons The Answer und des
Diskussionsforums Defining Bad Religion, auffindbar über bereits genannte Homepage
19 Visions #86, S. 39.
20 Plebuch, Tobias: „Musikhören nach Adorno. Ein Genesungsbericht.“ In: Merkur #640 (8/2002). S. 675-687.
21 So fördert die Band etwa mittels eines Bad Religion Research Funds jedes Jahr innovative Feldstudien von jungen
Naturwissenschaftlern
22 Wilson S. 23.
23 Adorno, Theodor W. : Minima Moralia: Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Hrsg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt
a.M. 1980. [Gesammelte Schriften Bd.4.]. S. 93.
24 ebd. S. 43.
25 No Direction auf Bad Religion, Generator