Unkalifornischer hätten die Umstände dieses Interviews wohl gar nicht sein können. New York im November, das ist eine Stadt, die den idealen Nährboden für Depressionen liefert, und analog dazu eigentlich höchstens kranke, fiese Psychomucke hervorbringen kann.
Denkbar schlechte Rahmenbedingungen also für eine Band, die in ihren Texten zwar durchaus düstere Gedanken verarbeitet, musikalisch aber auch 1996 noch für melodische Unbekümmertheit steht. Dass Jay Bentley, Greg Graffin, Brian Baker, Bobby Schayer un Greg Hetson - von den scheinbar widrigen Aussenbedingungen unberührt - ihr mittlerweile neuntes Album auch im Big Apple aufnemen können, hat aber sicher etwas mit der Lokalität zu tun. Das 'Electric Ladyland'-Studio an der 8. Strasse liegt im Kellergeschoss eines unscheinbaren Backsteingebäudes, und weder drinnen noch draussen deutet irgendetwas darauf hin, dass in diesen Räumlichkeiten schon das eine oder andere mal Rockgeschichte geschrieben bzw, eingespielt wurde.
Als mich der Taxifahrer - ein Araber, der mir angesichts der Ermordung Rabins zwei Tage zuvor von seiner Abscheu gegenüber religiösen Fanatikern erzählt - im strömenden Regen vor dem Studio absetzt, bin ich nicht nur durchnässt, sondern auch angespannt. Wie werden Bad Religion gelaunt sien, an welchen wichtigtuerischen Management- und Plattenfirmentypen gilt es sich vorbeizukämpfen? Während ich noch diesen Gedanken nachhänge und an der unbeschrifteten Eingangstür nach dem Klingelknopf suche, ertönt aus einem versteckten Lautsprecher plötzlich "Hallou! May I help you?" Big Sister was watching me via versteckter Kamera, und Sekunden später liegt das feuchtkalte NYC hinter und jede Menge Marmor und teures Holzfurnier vor mir. Minuten später trifft auch Kollege Anders ein, der zuvor wie ich auf Schnäppchenjagd war.
Bad Religion minus Greg Graffin haben eben erst ein Interview hinter sich gebracht, gemmeln in einer Sitzecke vor dem eigentlichen Studio rum und machen nicht gerade einen hochmotivierten Eindruck. Jay Bentley, der sich im nachfolgenden Gespräch angesichts der Abwesenheit von Greg Graffin als Wortführer erweist, hat etwa nichts besseres zu tun, als den deutschen Journalisten mitzuteilen, dass seine soeben mittels Strohhalm verzehrte Mixtur aus Schokomilch und Kaffee bei ihm grosse Übelkeit hervorrufe. Äh, ja...
Und dann, während wir aus Anlass der Überreichung einer VISIONS-Ausgabe noch über die Fähigkeit der Deutschen sinnieren, amerikanischen Zwischen-den-Zeilen-Humor zu verstehen, sind wir auch schon mitten im Gespräch. Jay entdeckt ein Spermbirds-Interview, erzählt von den diversen Shows, die Bad Religion mit ihnen gespielt haben, und ist etwas enttäuscht, als wir von ihrer Auflösung berichten. Dazu gibt es keinen Grund, sagen wir, die hatten ihren Höhepunkt überschritten. "Brian, Greg und ich haben uns über dieses Thema schon oft unterhalten", berichtet Jay, "und ich hoffe, dass wir erkennen, wann unsere Zeit gekommen ist. Und dieser Punkt ist erreicht, wenn ich an der ganzen Sache keinen Spass mehr habe." Das Drumherum ihres kommerziellen Erfolges sie dem "Fun-Faktor" aber nicht abträglich, versichert uns Mr. Bentley: "Bei uns ging das so langsam, von Platte zu Platte, dass wir uns allmählich daran gewöhnen konnten. Bei Green Day war das anders: Von nichts, von 20.000 auf acht Millionen, das muss man erstmal verkraften, das ist, als ob du im Hochsommer in ein Becken mit Eiswasser springst."
Fünfzehn Jahre Punkrock'n'roll ohne Spazzverlust zu überstehen, das ist eine ganz orderntliche Leistung. Lässt sich das ohne permanente Kompromisse, ohne das Abweichen von einst hehren Prinzipien überhaupt durchstehen? "Ja", gibt sich Jay selbstbewusst, "denn wir hatten nie ergendwelche Prinzipien. Uns ging es von Anfang an nur darum, Platten aufzunehmen und sie rauszubringen. Wir waren nie Bannerträger einer politischen Idee oder einer bestimmen Ethik, eines 'Wir sind besser als ihr'-Denkens. Und weil es uns immer nur darum ging, Konzerte zu spielen und Platten zu machen, mussten wir im Laufe der Jahre auch nie Kompromisse gegenüber irgendeinem höheren Anspruch eingehen." Und dann setzt der Mann noch eine ganze Menge vom Do-It-Yourself-Gedanken halten, eine schallende Ohrfeige:"Viele Leute bringen uns wegen 'Epitaph' und unserer sonstigen Vergangenkeit mit dem D.I.Y.-Gedanken in Verbindung, aber dahinter steckte schliesslich keine freie Entscheidung. Es war eine Frage der Notwendigkeit: Kein Label wollte uns haben, also mussten wir die Sache selbst in die Hand nehmen. Den Schluss, dass etwas schon allein deshalb besser ist, weil man es im Alleingang durchzieht, halte ich für falsch."
Jays Resümee: Seit die Band 1988 mit "Suffer" ihre Wiedergeburt erlebte, habe sich eigentlich nichts geändert. Greg wirft ein, heute müsse er seinen Gitarrenverstärker bei Auftritten nicht meher selbst schleppen, und das sei zumindest für ihn eine wichtige Veränderung. "Nein, das meine ich nicht", präzisiert Jay. "Und ich meine auch nicht unseren Deal mit 'Atlantic' bzw. 'Sony Music'. Das war letztendlich nur eine Frage der Bequemlichkeit. Wir schaffen es einfach nicht mehr, uns alleine um alles zu kümmern, also haben wir uns Leute gesucht, die die Business-Seite der Band in die Hand nehmen. Dass wir bis heute überlebt haben, da bin ich mir sicher, hat viel damist zu tun, dass wir die Musik- und die Business-Seite der Band immer auseinandergehalten haben. Wir schreiben unsere Songs nicht, um wirtschaftlich erfolgreich zu sein, sondern aus Spass an der Musik."
Was die Business-Seite betrifft, so sind Bad Religion in einer ziemlich einzigartigen Position, die sich grundlegend von der vieler anderer Bands unterscheidet. Während es nämlich sonst die Band ist, die vom Label etwas will - einen Plattenvertrag -, war und ist die Situation Bad Religions eine andere: Die fünf Musiker haben etwas, dsa die Plattenfirmen haben wollen, und so sind sie es, die die Bedingungen diktieren können. "Bad Religion haben vor ihrem Major-Wechsel bewiesen, dass sie es alleine schaffen können", erklärt Brian. "'Atlantic' bzw. 'Sony Music' brauchen uns viel mehr als wir sie. Also stehen wir nicht unter dem Druck, dem andere Bands ausgesetzt sind. Von uns traut sich niemand zu verlangen, wir sollten bitte einen etwas kommerzielleren Song für die Singleauskopplung schreiben oder für das Pressfoto doch besser schwarz tragen." - "Genau", pflichtet Jay seinem Kollegen bei. "Wir sind damals zu 'Atlantic' gegangen und haben denen angeboten, zu bestimmten Bedingungen mit uns zusammenzuarbeiten. Wir haben die im Prinzip angeheuert, um unsere Platten zu verkaufen, unsere Beziehung ist also nicht das typische Band-Label-Ding."
Voller Begeisterung erzählen Jay und Brian diese Details, und auch ween sie vorher noch Sprüche klopften, wie wenig sie sich um den D.I.Y.-Gedanken scherten, so ist doch nicht zu überhören, dass Bad Religion auf ihre Position verdammt stolz sind und sich diebisch freuen, ihrem Label erzählen zu können, wo es langgeht.
Zum Zeitpunkt des Interviews befanden sich Bad Religion bereits seit über dreissig Tagen im Studio, und unsereins fragt sich dann schon, wieso das denn alles so verdammt lange dauern muss und ob das nicht ziemlich nervt, ständig in einem Kellerloch ohne Tageslicht abzuhängen, während hier noch ein Gitarrenriff eingespielt werden muss, da eine Drumspur und an jenem Mix herumgepriemelt wird. Greg: "Wir erkennen durchaus die Notwendigkeit, die Aufnahmen so und nicht anders durchzuziehen. Wenn es nicht funktionierte, würden wir das nicht machen." Und Jay fügt hinzu: "Unsere Alarmanlage für eine Situation, die ausser Kontrolle gerät, hat bisher noch nicht angeschlagen, also läuft alles glatt. Wenn wir allerdings zu irgendeinem Zeitpunkt feststellen sollten, dass sich die Sache in die falsche Richtung entwickelt, würden wir die Aufnahmen stoppen. Dieser Produktionsprozess ist eine hochkomplexe Angelegenheit und ich werde mal versuchen zu erklären, wie das so läuft. Wenn wir am ersten Tag in ein Studio kämen und und der Produzent anhand der Vorproduktion erklären würde, er fände alle Songs klasse und würde nur diese oder jene Änderung vornehmen, wären wir sofort wieder zur Tür raus. Genauso wäre es, wenn jemand von der Plattenfirma ins Studio käme und uns vorschlüge, wir sollten doch diese oder jene Änderung vornehmen. Nein, es läuft anders: Greg Graffin schreibt seine Songs und hat ein exaktes Bild davon, wie sie später klingen sollen. Allerdings zieht er seine Vorstellungen nicht straight durch, sondern wir sprechen die Tracks durch und jeder kann seine Ideen einbringen."
"Um auf die lange Zeit im Studio zurückzukommen", fährt Brian fort, "Ich denke, dass sich das auf jeden Fall positiv auswirkt - ganz einfach, weil der Klang besser wird. Die Wochen hier gehen ja nicht für den kreativen Prozess des Songwritings drauf, sondern für den technologischen Aspekt des Aufnehmens. Deshalb bin ich überzeugt, dass das hier die beste Bad Religion-Platte wird."
Album von 1988 die "Punk-Explosion" der letzten beiden Jahre vorweggenommen haben, brauche ich Euch wohl nicht zu erzählen. Die Ernte, die die Kalifornier seit Anfang der Achtziger gesät haben, fuhren allerdings andere ein, und Bands wie NoFX oder Pennywise sind heute sogar "grösser" als ihre Vorbilder. Greg: "Die einzige Auswirkung dieses Hypes ist für mich, dass jetzt auch mal ein paar Punkbands im Radio gespielt werden." - "Ich finde, dass es verdammt nochmal an der Zeit war für diese Explosion", fährt Jay fort. "Deshalb verstehe ich auch jene Leute nicht, die sich jetzt darüber beklagen. Als wir in uns L.A. gründeten - und ich denke, Brian hat damals mit Minor Threat in D.C. die gleiche Erfahrung gemacht - war es schlichtweg unmöglich, das Radio einzuschalten, denn alles war vond Bands wie Genesis oder Van Halen verseucht. Jetzt ist das anders und die Welt ist zumindest ein bisschen mehr so, wie ich sie gerne hätte." Für Bad Religion ist die Tatsache, dass die Lawine, die sie einst lostraten, und die sie mittlerweile überholt hat, aber erwartungsgemäss kein Grund, sich zu grämen oder von all den jüngeren Bands unter Druck gesetzt zu fühlen - sagen sie jedenfalls. "Wenn mein Glück von inserer Position in der Punkrock-Community abhinge", spottet Jay also, "dann hätte ich die ganze Sache wohl schon Jahren hingeschmissen. Nein, wir sind absolut zufrieden mit dem, was wir erreicht haben. Uns beschäftigt vielmehr, wie das neue Album ausfallen wird, was für Songs wir in Zukunft schreiben und welche unserer 160 Stücke wir auf der nächsten Tour spielen werden. Das ist relavant für uns, und ich wäre zu bemitleiden, wenn ich nichts besseres zu tun hätte, als mich zu ärgern, dass Green Day acht Million Platten verkauft haben. Dann müsste ich mich nämlich auch aufregen, dass The Clash und die Sex Pistols mehr Platten verkauft haben als wir. Und ich müsste sogar verrückt werden angesichts der Verkaufszahlen von Poison und Whitesnake, wobei man dazu natürlich sagen muss, dass es besser wäre, wenn die nie existiert hätten. Warten wir ab, was in drei Jahren sein wird: Dann werden sich die Leute aus der Punkszene nämlich nostalgisch daran zurückerinnern, wie schön es doch war, im Radio und auf MTV auch mal Punk gehört zu haben."
Eine gewisse Freude, vom Hype übergangen worden zu sein, können Bad Religion, die übrigens kreuz und quer über die USA verstreut lebem und nur auf Tour und im Studio eine "richtige" Band sind, nicht verhehlen.
"Wir sind im Laufe der Jahre langsam, aber stetig gewachsen", erzählt Jay stolz, "und solange sich jedes neue Album ein bisschen besser verkauft als das davor, können wir uns nicht beklagen. Ich finde es ehrlich gesagt auch viel befriedigender, sich nicht um aktuelle Trends kümmern zu müssen. Die machen dich vielleicht heute gross, aber morgen erinnert sich keiner mehr an dich. Ich habe durch das Spielen eines Instrumentes mehr erreicht, als ich mr jemals hätte träumen lassen, also gibt es wirklich keinen Grund, andere zu beneiden."
Und Billie Joe von Green Day mag zwar ein paar Millionen mehr auf dem Konto haben, dafür kann er aber nicht mehre unerkannt in kleinen New Yorker Plattenläden stöbern. "Äh, hm, naja", scherzt Brian, dessen Minor Threat-Jahre auch schon eine Weile zurückliegen, "mein Problem ist vielmehr, dass mich niemand erkennt. Ich hänge ohne Geld in Plattenläden rum und hoffe, dass mich jemand grüsst und mir aus Ehrfurcht eine Platte schenkt." - "Die Sache bei Green Day ist doch", fügt Jay hinzu, "dass die sehr gut zu vermarkten sind: Billie Joe und Tré sind nette, hübsche Jungs mit markanten Gesichtern. Wir dagegen sind fünf ältere Typen, von denen höchstens Greg Graffin wiedererkannt wird." - "Ich schliesse mittlerweile sogar Wetten darauf ab", lacht Greg, "dass ich bei einem Bad Religion-Konzert vom Backstage-Raum zum T-Shirt-Stand laufen, dort für fünf Minuten abhängen und schliesslich wieder zurücklaufen kann, ohne von einem einzigen Menschen erkannt zu werden. Bisher habe ich immer gewonnen."
Ach so, das neue Album trägt übrigens den Titel "The Gray Race", enthält 16 Tracks und erscheint am 26. Februar über 'Sony Music'. Eine entsprechende Vinyl-Version (ohne den in deutscher Sprache (!) eingesungenen CD-Bonus-Track "Punk Rock Song") ist bereits am 12.2. erhältlich. Im Studio gab's vorab allerdings nur zwei Songs zu hören, und zumindest die klangen nicht anders als das, was man gemeinhin von Bad Religion erwartet. Etwas giftiger und, ähem, "punkiger" vielleicht als das letzte Album, und so dürfte sich das neue Werk in seiner Gesamtheit wohl wieder im grünen Bereich bewegen. Für die Produktion zeichnet diesmal Altmeister Ric Ocasek verantwortlich, dem wir - in Ehrfurcht erstarrt - sogar die Hand schütteln durften. Was es allerdings damit auf sich hat, dass am Vortag noch Queen im Nachbarstudio beschäftigt waren - Brian May als Gastgitarrist? -, wage ich nicht zu vermuten...